Der Prager Fenstersturz

Prag ist ein Ort, der Geschichten in seinen Mauern trägt. Manche dieser Geschichten sind weltberühmt, andere eher leise und überraschend – und einige beginnen mit einem Fenster, aus dem zwei Männer fliegen. Auf einem meiner kleinen Städtetrips stand ich wieder einmal oben auf der Prager Burg, ließ den Blick über die roten Dächer der Altstadt schweifen, und mir fiel ein unscheinbares Fenster auf. Nicht besonders groß, nicht besonders prunkvoll. Und doch – genau dort, am 23. Mai 1618, nahm einer der verheerendsten Konflikte Europas seinen Anfang: der Dreißigjährige Krieg.

Was wie der Auftakt zu einem absurden Theaterstück klingt, war in Wahrheit ein dramatischer Machtkonflikt zwischen Katholiken und Protestanten. Prag war damals die Hauptstadt des Königreichs Böhmen, das Teil des Heiligen Römischen Reiches war – und religiös ein Pulverfass. Die protestantischen Stände fühlten sich zunehmend übergangen und bedroht von der habsburgischen Zentralmacht und ihrem katholischen Kurs. Es brodelte. Und schließlich kam der Tag, an dem vier Abgesandte der protestantischen Stände zum Alten Königspalast marschierten, um die kaiserlichen Statthalter zur Rede zu stellen.
Die Situation eskalierte. In einem hitzigen Wortgefecht griff man zu einem, sagen wir mal, drastischen Mittel: Man warf die beiden kaiserlichen Statthalter Wilhelm Slawata und Jaroslav von Martinitz sowie ihren Sekretär Philipp Fabricius kurzerhand aus dem Fenster. Das war immerhin knapp 17 Meter hoch – aber wie durch ein Wunder überlebten alle drei den Sturz. Damals sagten die einen, es seien Engel gewesen, die sie getragen hätten. Die anderen meinten lakonisch: „Es war der Misthaufen.“

So kurios dieser Moment klingt, er hatte tiefgreifende Folgen. Der Fenstersturz war die symbolische Kriegserklärung der böhmischen Protestanten an den katholischen Kaiser. Und was darauf folgte, war alles andere als lustig. Der sogenannte Böhmische Aufstand weitete sich schnell aus, wurde zum Religionskrieg, zum Kampf um Macht, Territorien und politische Vorherrschaft. Bald war ganz Europa verwickelt. Über dreißig Jahre lang brannte das Reich – Schlachten, Hunger, Pest, Zerstörung. Ganze Landstriche wurden entvölkert, Städte verwüstet. Ein Drittel der Bevölkerung im Heiligen Römischen Reich kam ums Leben. Und alles begann mit einem Streit und einem Fenster.

Heute ist es fast surreal, an diesem Ort zu stehen. Die Sonne fällt durch das Fenster, draußen lachen Touristen, und der Blick geht hinunter in den Hof. Alles wirkt friedlich. Kein Rauch, kein Aufruhr – nur Geschichte, die durch die Mauern flüstert. Und genau das liebe ich an solchen Orten: Die Vergangenheit ist nicht weit weg, sie ist greifbar. Man braucht nur ein wenig Vorstellungskraft – und vielleicht eine Kamera, um den Moment festzuhalten.
Wenn ihr also einmal in Prag seid, lasst euch nicht nur vom Trubel der Altstadt treiben. Nehmt euch Zeit für die Burg, steigt zum Fenster hinauf, bleibt einen Moment stehen. Wer weiß – vielleicht hört ihr auch das leise Echo eines sehr lauten Streits.

Ein sehr schöner Text, hat zwischendurch fast poetische Züge.